So schmeckt Kindheit: Kaiserschmarrn und Kartoffel-Wirrler – was wurde bei euch zu Hause gekocht?

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Essen und die Rituale rundherum sind Teil jeder Biografie. Dabei geht es nicht nur um Rezepte, die Gerichte sagen auch viel über uns und unsere Familien aus. Sind wir auf dem Land oder in der Stadt? Arm oder reich? Genießer oder Pragmatiker? Es ist also sinnvoll, sich beim biografischen Schreiben dem Essen zu widmen. Wie das geht und 5 Tipps, was ihr aus den Geschichten übers Essen machen könnt, findet ihr in diesem Beitrag.   

Wenn bei uns zu Hause Kaiserschmarrn auf dem Speiseplan stand, war Schnelligkeit gefragt. Alle vier Kinder (siehe Foto) saßen schon bereit, wenn Mama die große Glas-Form in die Mitte des Tisches stellte. Sie teilte aus, jeder bekam seinen gerechten Anteil. Das war ihr sehr wichtig. Doch wer wirklich schnell war, konnte auch noch den Nachschlag einheimsen. Wir streuten Staubzucker drüber – nicht zu wenig – manchmal gab es auch Apfelmus oder einen Klecks Marmelade dazu. Es schmeckte herrlich – und war nie genug. Ich glaube, meine Eltern haben davon gar nichts genommen. Sie überließen alles den Kindern.

Erinnerungen ans Essen sind Teil jeder Familiengeschichte. Es gibt bestimmte Speisen, an die man sich ein Leben lang erinnert. Der Geruch und Geschmack der Gerichte können deshalb auch Auslöser unwillkürlicher Erinnerungen sein, wie sie Marcel Proust beschreibt.  In seinem 1927 erschienenen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ geht es um diese Art der Erinnerungen. Gleich am Beginn des Romans tunkt die handelnde Person ein Gebäck namens Madeleine in den Tee und beißt genüsslich hinein. Das löst eine Fülle von Erinnerungen an ihre Kindheitserlebnisse aus. Ungewollt und unwillkürlich. Diese unfreiwillige autobiografische Erinnerung wird später als „Proust-Phänomen“ bezeichnet.

Früher wurde immer mit Liebe gekocht, oder?

Jede Familie hat ihre Rituale beim Essen. Wer sitzt an welchem Platz beim Tisch? Immer gleich – oder jedes Mal an einem anderen? Wird ein Tischgebet gesprochen? Ist es wichtig zu warten, bis alle ihre Portion auf dem Teller haben? Steht die Suppenschüssel in der Mitte und alle nehmen sich selbst? Oder essen alle Familienmitglieder aus einem Topf?

Ums Essen ranken sich viele Geschichten und Rezepte werden von Generation zu Generation weitergegeben. Schriftlich oder mündlich überliefert. In so manchen Familien ist man stolz auf die Rezepte der Ahnen. „Diesen Gugelhupf hat schon meine Uroma genauso gemacht.“ „Das ist ein altes Rezept meiner Oma.“ „Diese Hühnersuppe hat mir meine Mama früher immer gekocht, wenn ich krank war.“

„Oh, dann schmeckt er bestimmt ganz besonders gut!“ Was nämlich immer mitschwingt: Wenn’s ein Rezept von früher ist, wurde bestimmt mit Liebe gekocht.

Was wurde bei euch gekocht?

 Diese Frage stelle ich immer, wenn ich mir bei meiner Arbeit die Lebensgeschichten der Menschen anhöre. Und manchmal sind Gerichte dabei, von denen ich noch nie gehört habe. Sie kommen aus einer anderen Region oder aus einer anderen Zeit, in der man verkochen musste, was man hatte.

In der Biografie meiner Mama, die aus Hall in Tirol stammt, kommt zum Beispiel das typisch tirolerische Gericht „Kartoffel-Wirrler“ vor: Dafür kocht man bereits am Vortag Kartoffel, reibt sie, hebt Salz und Mehl locker unter die Kartoffeln. Dann wird das Gemisch in Fett goldbraun gebraten. Alle aßen aus einer Pfanne. Für die Kinder wurden die Kartoffeln meist mit Zucker bestreut, dazu gab es Kompott oder Apfelmus. Die Erwachsenen aßen sie auch pikant mit grünem Salat aus dem Garten.

Gerichte erzählen Geschichten. Umgekehrt sind Ereignisse in der Erinnerung oft mit einem Gericht verbunden. Bestimmt wisst ihr noch, was ihr beim ersten Treffen mit dem/der Liebsten gegessen habt. Vielleicht habt ihr sogar selbst gekocht und es ist gelungen/missraten? Die Geschichten bleiben für immer erhalten und kochen hoch, wann immer das besagte Gericht auf dem Tisch steht. Geschmack und Geruch sind die besten Trigger für Erinnerungen.

In unserem Gehirn sind solche Erinnerungen und Erfahrungen mit Selbstbezug im autobiografischen Gedächtnis abgespeichert: 

„Für die episodischen autobiographischen Erinnerungen gilt zudem, dass sie zeitlich und räumlich zugeordnet werden können und dass sie in der Regel von Emotionen begleitet sind, die beim Abruf der Erinnerung wieder aktiv werden und so in gewisser Weise ein Wieder-Erleben des vergangenen Geschehens ermöglichen.“ (aus: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch)

Essen löst auf jeden Fall Gefühle aus. Auf neudeutsch spricht man häufig von Soulfood, also Essen für die Seele. Eine wichtige Zutat dafür: glückliche Erinnerungen.

Was man aber auch wissen sollte: In der Erinnerung werden Ereignisse meist positiver angesehen werden als sie waren. Diese nehme mit dem Alter zu. Je älter Menschen werden, umso eher sprechen sie von einer „glücklichen Kindheit“. Diese Gedächtnisverzerrung hat eine wichtige psychodynamische Funktion, sie schafft Stabilität und festigt die Identität. Sich immer wieder an die guten Zeiten zu erinnern, macht Menschen auch widerstandsfähiger gegen Stress.

Vielleicht hat also der Kaiserschmarrn meiner Kindheit gar nicht sooooo köstlich geschmeckt. Kann ich mir nicht vorstellen. Ich bleibe bei der Variante meiner Geschichte, dass er gut und nie genug war.

Schreibideen süß-sauer

Hier habe ich fünf kulinarisch wertvolle Tipps fürs biografische Schreiben:

  • Rezepte sind schöne Gestaltungselemente für Biografien, wie ich finde. Wenn es Familienrezepte gibt, sollten diese auf jeden Fall ihren Platz in der Lebensgeschichte finden.
  • Wenn ihr eine Buchpräsentation für eine Biografie plant, habe ich noch einen Tipp: Kocht doch eines der alten Familiengerichte für eure Gäste. Das kulinarische Erlebnis verbindet.
  • Für Schreib-Gruppen: Übers Essen zu schreiben macht meist gute Laune. Schreibt zum Beispiel eine Geschichte rund um ein Rezept eurer Kindheit auf, ohne dabei den Namen des Gerichts zu erwähnen. Dann lest euch die Geschichten vor und die anderen müssen erraten, um welches Gericht es sich handelt.
  • Geschenktipp: Gestaltet ein Familienkochbuch mit den Geschichten, Rezepten und Fotos, die es so nur in eurem Clan gibt.
  • Noch ein Geschenktipp: Gestaltet einen Kalender mit 12 Lieblings-Gerichten. Dafür solltet ihr ein Jahr vorher beginnen und beim Kochen (mit den Kindern) fotografieren. Aus den Bildern und den passenden Rezepten entsteht der ganz persönliche Koch-Kalender der Familie.

Kaiserschmarrn-Foto: Babsi Arz

Mehr über mich, meine Leben und meinen Werdegang findet ihr hier!

Ich bin aber auch sehr neugierig. Was fasziniert euch am Schreiben? Habt ihr das biografische Schreiben schon ausprobiert? Was sind die süß-sauren Momente in eurem Leben? Und wer weiß ein gutes Rezept für Ribiselkuchen? 😉

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