Hätte ich doch gefragt! Interview über das Schweigen in der Nachkriegszeit

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Johannes Reitter hat 20 Biografien rekonstruiert - und Interessantes herausgefunden

Welche Rolle hatten meine Vorfahren im NS-Regime? Darf ich fragen? Wie soll ich fragen? Was tun, wenn sie nicht mehr leben? Fragen wie diese treten bei der Biografiearbeit und in den Workshops für biografisches Schreiben immer wieder zu Tage. Ich habe darüber auch schon oft mit Seminar-Teilnehmerinnen diskutiert und Erfahrungen ausgetauscht.

Umso mehr interessiert mich, wie er das sieht. Johannes Reitter ist Historiker und Chef vom Dienst im ORF-Landesstudio Oberösterreich. In seiner Dissertation hat er sich mit dem Schweigen in den Familien der Nachkriegszeit beschäftigt. Das betrifft sowohl Opfer als auch Täterinnen und Täter. Er hat 20 Biografien rekonstruiert, über die jahrzehntelang der Mantel des Schweigens gebreitet wurde. So heißt auch das Buch: Ein Mantel des Schweigens, erschienen im Böhlau-Verlag. Dreieinhalb Jahre hat er daran gearbeitet und im Interview mit mir seine Erkenntnisse und Erfahrungen geteilt:

Buchtipp: Johannes Reitter. Ein Mantel des Schweigens. Der Umgang mit der NS-Geschichte in Opfer- und Täterfamilien. Böhlau-Verlag

Die eigene Familiengeschichte als Ausgangspunkt

Hätte ich doch meine Großeltern mehr gefragt! Diesen Satz höre ich oft. Kennst du das auch aus deiner Arbeit an dem Buch?

Ja und es ist vor allem verbunden mit der Verzweiflung, dass es gar keinen Hinweis auf deren Rolle im Nationalsozialismus gab. Der Sohn eines Holocaust-Überlebenden berichtete zum Beispiel, dass dieser Teil der Biografie nie ein Thema war. Also hat er auch nie danach gefragt. Als junger Mensch ist das Interesse oft nicht da, und man überhört vielleicht manches und hat auch keine Zeit und Ressourcen, um nachzuforschen. Wenn sie davon wissen, recherchieren viele dann jahrelang und rund um die Welt – auf abgelegenen Friedhöfen, in alten Kirchen oder mit Gentests. Es ist eine verzweifelte Suche nach Spuren.

Du schreibst auch über deine eigenen Vorfahren – war das der Grund für die Dissertation und das Buch?

Meine eigene Familie war der Ausgangspunkt. Der Bruder meines Großvaters soll ein Mörder gewesen sein und wurde hingerichtet. Es hieß aber immer: Darüber reden wir nicht! Das Thema war mit viel Scham besetzt. Ich erfuhr es auch erst, als ich 40 Jahre alt war. Als ich mich damit beschäftigte, fand ich schnell Hinweise und es zeigte sich, dass der Vorfall nicht so schwarz-weiß war, wie er schien. Es geschah im Streit. Weil er sich dem Befehl, am Überfall auf Polen teilzunehmen, widersetzt hatte, kam es zum Schusswechsel und sein Vorgesetzter wurde tödlich verwundet. Er wurde verletzt und 1940 hingerichtet. Mein Opa hat aber darüber nie geredet.

Es gibt viele verschwiegene Geschichten wie diese. In meiner Diss habe ich 20 Fälle aufgearbeitet und  auch meine eigene Familiengeschichte als Exkurs erzählt.

War es wichtig, herauszufinden, dass dein Vorfahre Opfer und nicht Täter war?

Es war mir wichtig zu wissen, wie es war. Er ist als Opfer im DÖW (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands) angeführt und es gibt einen Stolperstein in Salzburg (Anm: Das ist ein Kunstprojekt zur Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus). Die Klarheit ist mir wichtig, aber natürlich ist es mir lieber, dass er kein Täter ist. Im Buch habe ich jedenfalls versucht, Täter- und Opferseite vorurteilsfrei anzuschauen. 

In vielen Familien wurde und wird über diese Zeit geschwiegen

Warum glaubst du, wurde in deiner Familie geschwiegen?

Mein Großvater war Nazi, er war bei der SA. Er verlor nach dem Krieg seinen Job bei den ÖBB und musste sich einige Jahre durchschlagen. Er hatte Probleme mit seinem Bruder, der Sozialdemokrat und ein Gegner des Hitlerregimes war. Durch sein Schweigen wollte er sich auch distanzieren.

Warum wird und wurde in anderen Familien nicht über die NS-Vergangenheit geredet – also der Mantel des Schweigens über alles gebreitet?

Auf der Opferseite ist es oft Scham. Ich habe auch Interviews mit Psychiatern geführt, die mir erklärten, dass jeder und jede unterschiedlich widerstandsfähig ist. Die Latenzzeit ist sehr verschieden und bei schwer traumatisierten Menschen kann es Jahrzehnte dauern, bis sie reden können. Oft wird und wurde auch die jüdische Herkunft verschwiegen, aus Angst vor Verfolgung.

Auf der Täterseite ist ebenfalls Scham eine häufige Ursache fürs Schweigen, außerdem strafrechtlich relevante Delikte. Einer war für Massenmorde verantwortlich, und die Tochter wusste es nicht.

Und wenn doch, was motiviert Menschen dazu, über ihre Rolle im Nationalsozialsmus zu reden?

Beziehungen und Charaktere sind unterschiedlich, manche können und wollen reden. Faktum ist auch, dass nach dem Ersten Weltkrieg in den Familien wesentlich mehr über Kriegserlebnisse geredet wurde. Der Zweite Weltkrieg hat so unmittelbar bei uns stattgefunden. Da war es nicht opportun, sich mit der Verlierermacht zu identifizieren.

Gibt es einen Unterschied zwischen Opfer- und Täterfamilien?

Die Motive für das Schweigen sind wie schon beschrieben unterschiedlich. Auf der einen Seite ist es auch die Weigerung, das Leid der Opfer anzuerkennen. Auf der anderen Seite ist es Scham, in diese Mühlen geraten zu sein. Beide Gruppen eint aber der Wunsch nach Aufarbeitung und Gewissheit. Deshalb habe ich mich in meiner Diss mit beiden Seiten beschäftigt.

Kann man nach vielen Jahrzehnten des Schweigens überhaupt noch alles herausfinden?

Das Bedürfnis ist groß – man kann aber nie alles herausfinden. Ein Beispiel: Eine Frau fand eher durch Zufall das Grab ihrer Großeltern auf dem jüdischen Teil eines Friedhofs – und fiel aus allen Wolken. Daraufhin investierte sie viele Jahre, um mehr zu erfahren. Ihr Vater überlebte anscheinend in der jüdischen Unterwelt in Wien mit Kartenspielen – sie konnte aber nicht mehr alles herausfinden.

Die Lücke in der Biografie bleibt Teil der Familien-DNA

Wann entsteht eigentlich das Interesse an der eigenen Familiengeschichte?

Oft erst in der Enkelgeneration, das weiß man auch aus Israel: Holocaustüberlebende reden oft erst mit den Enkelkindern. Manchmal sind auch besondere Ereignisse Auslöser für Nachforschungen – das können runde Geburtstage, Übersiedlungen oder Todesfälle sein. Dabei werden Dokumente durchgeschaut und Hinweise gefunden. Noch ein Beispiel: Der Sohn eines Holocaust-Überlebenden wollte lange nichts davon wissen, bis er selbst Kinder hatte. Dann wurde es wichtig.

Was bringt es den Nachkommen, mehr über ihre Familiengeschichte zu wissen? Ist es notwendig oder gibt es auch gute Gründe, weiterhin zu schweigen?

Den meisten bedeutet es viel, wenn sie mehr erfahren haben – diese Erfahrung habe ich gemacht. Ich habe sogar einen bisher unbekannten Familienzweig entdeckt. Diese Verwandten waren nach Shanghai emigriert. Noch immer gibt es aber auch Menschen mit jüdischen Wurzeln, die Angst haben, stigmatisiert zu werden. Diese Namen habe ich nicht abgedruckt. Und auch Täterfamilien haben teilweise Probleme mit den neuen Erkenntnissen. Dennoch lohnte es sich, den Kindern und Enkelkindern gegenüber nicht zu schweigen. Das Schweigen setzt sich fort, es hat Nachwirkungen und die Lücken in der Biografie bleiben. Es ist sozusagen in der Familien-DNA, alle wissen, da war etwas, da hat es etwas gegeben, aber keiner redet darüber. Nichts oder wenig zu wissen, kann sehr belastend sein. 

Tipps für die Recherche

Zur Recherche: Wie gehst du vor und welche Tipps hast du für uns?

Ich habe Interviews geführt und parallel in Archiven recherchiert und Dokumente aus dem Familienbesitz ausgewertet. Was hilfreich sein kann:

  • Deutsches Bundesarchiv in Berlin: hier findet man viel, wenn jemand bei einer militärischen Einheit war. Es kann zwar Monate dauern, aber man bekommt etwas.
  • Suchdienst des Roten Kreuzes: ein großes Archiv, in dem man vor allem auf der Opferseite viel finden kann.
  • Landesarchive: hier gibt es zum Beispiel Entnazifizierungsakten und Opferfürsorge-Akten. Archivare helfen einem oft gern auf die Sprünge, da kann man sich Verbündete suchen.
  • Staatsarchiv in Wien
  • Fotos genau anschauen: auf Uniformen finden sich häufig Hinweise

Wie geht man damit um, wenn jemand nicht reden will?

Von Expert:innen, die mit traumatisierten Opfern arbeiten, habe ich erfahren: Sie drängen nicht, zeigen aber Bereitschaft, zuzuhören und signalisieren, es wäre gut, zu reden. Auf jeden Fall dürfen wir nicht vergessen, dass wir die Geschichte aus heutiger Sicht betrachten. Verurteilungen können fehl am Platz sein, auch wenn man nichts beschönigt. Man ist gut beraten, sich mit Wertungen zurückzuhalten.
Mein Fazit ist: Man sollte Dokumente und alte Briefe unbedingt aufheben, sodass die Informationen erhalten bleiben. Man kann auch die Erzählungen als gesprochenen Text aufnehmen oder aufschreiben. Für später.

Einen Bericht über das Buch von Johannes Reitter gibt’s auch in den OÖNachrichten.

Foto: Werner Dedl

„Verurteilungen können fehl am Platz sein, auch wenn man nichts beschönigt. Man ist gut beraten, sich mit Wertungen zurückzuhalten.“ 

Johannes Reitter

Mehr über mich, meine Leben und meinen Werdegang findet ihr hier!

Ich bin aber auch sehr neugierig. Was fasziniert euch am Schreiben? Habt ihr das biografische Schreiben schon ausprobiert? Was sind die süß-sauren Momente in eurem Leben? Und wer weiß ein gutes Rezept für Ribiselkuchen? 😉

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